Friedensaktionstag 19.11.2022, Bonn
Rede von Joachim Schramm, DFG-VK NRW
Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,
Der Raketeneinschlag in Polen in dieser Woche hat uns allen vor Augen geführt, wie schnell sich der Ukrainekrieg auf das NATO-Gebiet ausweiten könnte. Hätte es sich tatsächlich um eine russische Rakete gehandelt, wäre eine militärische Antwort der NATO wahrscheinlich gewesen, mit der Gefahr einer weiteren, unabsehbaren Eskalation. Deshalb gilt unsere Forderung heute umso dringlicher, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden! Der Angriffskrieg Russlands hat in erster Hinsicht schreckliche Folgen für die Ukraine und dann auch für Russland selbst. Nach aktuellen US-Angaben sind bisher fast eine viertel Million ukrainische Zivilisten und Soldaten auf beiden Seiten getötet oder verwundet worden. Man kann also von annähernd 100.000 Toten auf beiden Seiten ausgehen. Dieser Krieg hat seine Vorgeschichte, die NATO-Osterweiterung und vieles mehr, doch die Verantwortung für den Krieg hat die russische Regierung und wir fordern sie hier und heute auf: Beenden Sie diesen Krieg! Doch Moskau ist weit und unsere Forderungen werden dort kaum ankommen. Also stellt sich die Frage, was können wir hier, was kann unsere Regierung tun, um den Krieg zu beenden? Seit dem 24. Februar hat sich vor allem in großen Teilen der Eliten unseres Landes ein breiter Stimmungswandel vollzogen. War die Ampelkoalition noch mit der Aussage gestartet, keine Rüstungsexporte in Kriegsgebiete zuzulassen, diskutieren wir inzwischen nur noch über die Art der Waffen, die in die Ukraine geliefert werden sollen. Und wenn vor wenigen Wochen ein Kreis von bekannten Sozialdemokraten fordert, die rote Linie der Lieferung von Kampfpanzern und -flugzeugen angesichts der Gefahr eines III. Weltkriegs nicht zu überschreiten, müssen sie sich den Vorwurf anhören, sie würden die Zerstörung der ukrainischen Gesellschaft in Kauf nehmen. Ist es nicht vielmehr so, dass die ungebremste Fortführung des Krieges die ukrainische Gesellschaft zerstört? Der ukrainische Präsident spricht davon, dass jeden Tag über hundert ukrainische Soldaten sterben, jeden Tag! Und schon die Gefechte rund um das Atomkraftwerk Saporischschja vor einigen Wochen haben die Gefahr deutlich gemacht, die für uns alle von diesem Krieg ausgeht. Und doch ist im Westen die Parole ausgegeben worden, die Ukraine müsse diesen Krieg gewinnen, die ukrainische Regierung spricht davon, alle besetzten Gebiete und die Krim zurück zu erobern. Das halten kritische Militärexperten für völlig unrealistisch, trotz der aktuellen Geländegewinne der ukrainischen Armee. Auch von US-Militärs ist aktuell die Aussage zu hören, ein schneller Sieg der Ukraine sei nicht zu erwarten. Inzwischen hat die russische Regierung nächste Schritte vollzogen, die Teilmobilmachung und die Annexion der besetzten Gebiete. Die derzeitigen Raketenangriffe auf die Energieversorgung des Landes treffen die Menschen in ihrem alltäglichen Leben schwer. Und das wird nicht der letzte Eskalationsschritt gewesen sein. Es wird deutlich, dass sich die Putin-Regierung den Gesichtsverlust einer Niederlage und auch die endgültige Aufgabe strategisch wichtiger Regionen nicht leisten kann. Und dann steht immer noch die Möglichkeit des Einsatzes von taktischen Atomwaffen im Raum. Wer also der Ukraine die Fortführung des Krieges bis zum Sieg empfiehlt, der nimmt ihre Zerstörung und den Tod Hunderttausender in Kauf. Die NATO-Staaten haben geglaubt, mit weitreichenden Wirtschaftssanktionen könne man Russland in die Knie zwingen. Dieser Plan scheint nicht aufzugehen. Russland ist bei weitem nicht weltweit isoliert, auch wenn Schlagzeilen jetzt nach dem G20-Gipfel uns das wieder glauben machen wollen. Viele Länder in der Welt haben nicht vergessen, dass auch der Westen gegen Völkerrecht verstoßen hat, u.a. in den Kriegen gegen den Irak oder gegen Libyen, unter deren Folgen die Menschen im Nahen und Mittleren Osten noch heute leiden. In Zeitungskommentaren hierzulande ist immer offener von einem Wirtschafts- oder Energiekrieg mit Russland die Rede. Dessen Folgen bekommen wir nun zu spüren, aber noch schlimmer trifft es die Menschen im globalen Süden, die unter den immer höheren Energiepreisen und den unterbrochenen Warenströmen leiden. Immer deutlicher wird: Diese Embargopolitik wird nicht zum Frieden führen! In den vergangenen Wochen sahen wir Bilder von aus Russland fliehenden Menschen, die nicht in den Krieg ziehen wollen. Und auch aus der Ukraine sind Zehntausende nach Rumänien und anderen Ländern geflohen, weil sie sich nicht am Krieg beteiligen wollen. Das gibt Hoffnung, dass auf beiden Seiten immer mehr Menschen begreifen, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beendet werden muss. Da sind Anfeindungen gegen russische Deserteure, wie sie zuletzt in Deutschland zu hören waren, fehl am Platze. Den Deserteuren aus beiden Ländern muss hier in Deutschland und der ganzen EU Schutz und Asyl gewährt werden, ihnen gilt unsere Solidarität, auch dafür stehen wir heute hier! Was kann aber darüber hinaus getan werden? Im bundesweiten Aufruf des DGB zum diesjährigen Antikriegstag im September hieß es „Der Ukraine-Krieg darf uns nicht zu dem Irrglauben verleiten, Frieden ließe sich mit Waffen schaffen.“ Diese wichtige Einschätzung der Gewerkschaften bedeutet doch, dass man alles tun muss, damit die Waffen schnellstmöglich schweigen. "Aber mit Russland kann man doch nicht reden", heißt es da häufig. Doch haben gerade die Verhandlungen über die Weizentransporte aus ukrainischen Häfen gezeigt, dass man durchaus mit Russland reden kann, wenn es die richtigen Vermittler gibt und der richtige Ton getroffen wird. Die Vereinbarungen sind gerade um weitere vier Monate verlängert worden. Die völkerrechtswidrige Eingliederung der besetzten Gebiete in das russische Staatgebiet scheinen jetzt solche Verhandlungen zu erschweren. Aber vielleicht eröffnet die aktuelle Situation zu Beginn des Winters auch eine Chance, innezuhalten und nach einer Lösung zu schauen. Aus dem Kreml gab es in den letzten Wochen Signale, man sei zu Gesprächen bereit. Und auch in den USA sind jetzt Stimmen aus dem Regierungsapparat zu hören, man müsse die ukrainische Regierung zu mehr Verhandlungsbereitschaft bewegen. Aber von Seiten der EU-Staaten wird ja noch nicht einmal der Versuch unternommen, Verhandlungen anzustoßen. Unser Bundespräsident verstieg sich vor einigen Wochen zu der Aussage, man dürfe die Ukraine nicht zu Verhandlungen drängen. Ja, warum denn nicht? Eine Mehrheit der Deutschen ist laut Umfragen dafür, dass mehr zur Aufnahme von Verhandlungen getan wird. Deutschland wolle mehr Verantwortung in der Welt übernehmen, tönten Politiker in den letzten Jahren. Muss das jetzt nicht heißen, das Gewicht des deutschen Staates in die Waagschale zu werfen, um das Sterben in der Ukraine zu beenden? Mit immer mehr und schwereren Waffen wird man das nicht ereichen. Diese Politik droht dazu zu führen, dass auch NATO-Staaten in den Krieg einbezogen werden, entweder gezielt oder durch einen Irrtum wie jetzt beinah durch den Raketeneinschlag in Polen. Auch von sonst kriegsfreudigen Kommentatoren wird inzwischen eingeräumt, dass es wohl zu einem Verhandlungsfrieden kommen wird. Nur sei der Zeitpunkt noch nicht der richtige. Also müssen vorher noch ein paar zigtausend Menschen mehr sterben, oder was heißt das? Nein, jetzt muss etwas unternommen werden, jetzt müssen Deutschland und die anderen NATO-Staaten mit der Ukraine darüber sprechen, unter welchen Bedingungen ein Waffenstillstand herbeigeführt werden kann und sie müssen Wege ausgelotet, wie man auch Russland an den Verhandlungstisch bekommt! Im Rahmen der Zivilen Konfliktbearbeitung kennt man den Begriff der positiven Sanktion. Es könnte also heißen: "Wir biete Dir, russische Regierung an, dieses oder jenes Embargo fallen zu lassen, wenn Du Dich zu Verhandlungen bereit erklärst.“ Das ist doch ein Versuch wert! Dazu muss aber mehr passieren, als dass Kanzler Scholz mal wieder mit Putin telefoniert und ihn auffordert, seine Soldaten zurückzuziehen. Internationale Persönlichkeiten wie der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, der ehem. spanische Außenminister Moratinos und Wolfgang Richter von der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik fordern in diesen Wochen in einem Aufruf: Die USA, die Europäische Union, die Türkei, China und andere Länder sollten den beiden Seiten helfen, sich mit einem ausgehandelten Friedensabkommen sicher zu fühlen. Also, Vorschläge gibt es, jetzt ist die Zeit da, deutlich zu fordern: Verhandeln statt schießen! Die fünf führenden deutschen Friedensforschungsinstitute schrieben in ihrem diesjährigen Friedensgutachten: „Für die anstehenden Probleme der europäischen Sicherheit, aber auch darüber hinaus für die weltpolitischen Herausforderungen der Klima-, Ernährungs- und Gesundheitskrise, ist die Orientierung an der Idee kooperativer Sicherheit und einer gesamteuropäischen Friedensordnung notwendig." Also, es gilt den Ukrainekrieg so schnell wie möglich zu beenden und dann daran zu arbeiten, zu einer neuen Friedensordnung zu kommen. Denn in einer Welt, die sich in neue Blöcke aufspaltet ist, die sich mit Misstrauen und Konfrontation begegnen, werden wir die entscheidenden Menschheitsfragen wie den Klimawandel nicht in den Griff bekommen, über den in Ägypten gerade die Staaten beraten. Lasst uns für eine neue Friedensordnung eintreten, für unser aller gemeinsame Zukunft, Kooperation statt Konfrontation!